Auf der Suche nach der Wahrheit des Moments

Das Statische existiert nicht. Eine Bewegung umschließt eine weitere Bewegung, und dieser Kreis setzt sich ins Unendliche fort. Alejandra Ruddoff arbeitet die Reichweite der Bewegung heraus und erkundet dabei – mithilfe der Form – die Wahrheit des Moments.

Die Werke lassen die bloße Metapher des Abgebildeten zurück. Sie graben in den Schriftzügen einer – einschließenden und zugleich eingeschlossenen – Ganzheit, die sich ihrer zeitlichen Dimension bewusst ist. Ein Ganzes, das ist und das wird, und das, da es vielfältige, sich ständig fortsetzende und kreisförmige Dimensionen der Zeit umfasst, die Idee des Jetzt beansprucht. Jede Linie zeichnet die Dynamik eines Weges, der allmählich an Kraft und Erscheinung gewinnt und sich als Ganzes darstellt, das sich ewig fortsetzende Bewegungen hervorbringen kann.

Die Anspielung auf die ewige Wiederkehr und die unveränderliche universelle Verwandlung erweitern diese zyklischen Gebilde. So wie jeder Gegenstand seiner Zeit – und seiner Veränderung – unterworfen ist, ist jedes aufgespannte Gebilde seinem Material unterworfen. Die Wahl der Umsetzung ist keineswegs zufällig. An der Grenze zwischen Skulptur und Malerei bleibt das grafische Zeichen des Übergangs vom Zerbrechlichen zum Widerstandsfähigen wie ein Überrest zurück, der seinen Ursprung überträgt. Es handelt sich nicht nur um mögliche Verlaufslinien. Die Unordnung hat eine besondere Form – eine Ordnung; Bewegung und Materie bedingen sich gegenseitig.

Unter Anerkennen der ständigen Fortdauer des Beweglichen machen Ätzungen, Prägungen, Skulpturen und Digital Print die Dynamik der sich umformenden Materie deutlich. Die Spannung ist dann nicht mehr Teil des Kurzlebigen und wird als Bestandteil des Harmonischen, des Gegenwärtigen, des Räumlichen erkannt.

Diese Kartografien des Wandels, diese Mikro-Momentums und Makro-Universen vereinigen sich als symbolische Aneignung des Raumes, indem sie die nicht wahrnehmbare Harmonie des Umherkreisenden sichtbar machen.

Elisa Sepulveda Ruddoff

Kunstgeschichte, Ästhetik und Kunstwissenschaften Hochschulstudium, Université Panthéon - Sorbonne, Paris.

Eine Plastik findet ihren Platz

Ende des Jahres 2000 lag der Katalog einer in Deutschland noch wenig bekannten chilenischen Bildhauerin namens Alejandra Ruddoff auf dem Schreibtisch, mit der Anfrage, ob nicht ein darin abgebildetes Werk namens „Nach Vorn“ in Potsdam aufgestellt werden könne. Die „Schiffbauergasse“ war zu diesem Zeitpunkt noch völlig ruinös. Ein „Integrierter Kultur- und Gewerbestandort“ mitsamt Theaterneubau war zwar beschlossen, aber es gab noch kein tragendes Konzept. Also landete der Katalog in der Ablage. Irgendwie aber gab diese Skulptur keine Ruhe. Öfters wurden die Katalogbilder doch angeschaut, nur um fest zu stellen, dass es dafür unmittelbar am Standort Schiffbauergasse selbst keinen -inhaltlich stimmigen!- Platz gab.

Die Vision zur „Schiffbauergasse“ überstieg schon damals den rein städtischen Rahmen, auch finanziell. Da es erstmals auf Bundesebene einen Staatsminister für Kultur gab, Michael Naumann, wurde dieser eingeladen. Er kletterte mutig auf den dreckigen Koksseparator (heute „ORACLE“), sah sich einmal um und sagte spontan 800.000 Mark für die Konzeptentwicklung des neuartigen Kultur- und Wirtschaftsstandorts zu.

Damit beschäftigt, lag der Katalog weiter in der Ablage. Aber irgendwann im Jahr 2001, mal wieder auf dem Weg zur Schiffbauergasse an der wüsten, durch den alten Baubestand gebrochenen Auffahrt der Schnellstraße zur Humboldtbrücke vorbeieilend, wurde klar: Genau da gehört „Nach Vorn“ hin. Ein Anruf in Chile bei Frau Ruddoff wurde zum merkwürdigen Déjá vu: Sie sprach nicht nur deutsch, sondern sagte auch gleich, „ja, bei der Schiffbauergasse Potsdam, da soll die Plastik stehen“. Sie hatte kurz zuvor bei einem Empfang der deutschen Botschaft in Santiago Michael Naumann kennen gelernt; nie zuvor darauf angesprochen oder gar abgestimmt, war ihm diese Idee aufgeblitzt, als er Fotos der Skulptur sah.

Nun stellte sich heraus, dass es sogar schon ein Modell der Plastik im Maßstab 1:1 gab, während eines Stipendiums von Alejandra Ruddoff in der Bildhauerwerkstatt des BBK Berlin aus Hartschaum gefertigt – und dort seit einigen Jahren zerlegt im Garten abgestellt. Die „initiative pro schiffbauergasse“, Sponsoren und die chilenische Botschaft halfen, die Künstlerin für einen Arbeitsaufenthalt nach Deutschland zu holen; das Modell wurde einigermaßen wetterfest zusammengesetzt, metallfarben lackiert und am 28.9.2002 „als ein Zeichen des Zusammenwirkens von Kultur und Wirtschaft“ feierlich unter prominenter Beteiligung mitten auf dem Grünstreifen der Schnellstraße an der Humboldtbrücke enthüllt. Oberbürgermeister Jann Jakobs hielt in seiner Rede fest:

„Bei aller vorwärtsstrebenden Dynamik werden wir damit auch an das Schicksal des Sisyphos erinnert, der immer wieder den gleichen Stein zu rollen hatte. Im Rückblick erscheint dieses antike Bild einer unendlich, aber regelmäßig wiederkehrenden Last noch ziemlich komfortabel, mit nur einem Stein war die Situation vergleichsweise überschaubar. Der moderne Sisyphos ist von ständig wechselnder Beschleunigung und von Kräften getrieben, die in ihrer Zentrifugalkraft, mit ihrem hochtourigen Drehmoment auch etwas rasend automobiles, kaum durchschaubares verkörpern. Steuern wir das wirklich noch selbst?“

Damit war das innere Thema ausgesprochen – „Nach Vorn“, mitten im rasenden, manchmal auch total stillstehenden Verkehr an einem vernachlässigten, bis dato nur hässlichen Knotenpunkt der Großstadt positioniert, veränderte auch dessen Wahrnehmung und sprach offenbar viele Menschen unmittelbar an: Autofahrer verstanden die Plastik als neues Wahrzeichen, Brautpaare und ganze Schulklassen ließen sich davor fotografieren, verbürgt ist auch ein vorbeiradelnder Außenminister namens Joschka Fischer, der verdutzt zum Handy griff und sich von seinen Botschaftsbeamten in Chile erklären ließ, was das denn sei.

Auch die Stadtplanung reagierte. Bald begannen erste Bauarbeiten zur Umgestaltung der maroden Brücke, im Jahr 2005 verschwand die Plastik zeitweise hinter Maschinen und Zäunen. Irgendein Zeitgenosse nutzte dies und köpfte in einer Augustnacht die Figur. Wohl selten gab es in einem Fall von Vandalismus in Potsdam derartiges Entsetzen und Medienresonanz. Die Polizei fahndete nach dem verschwundenen Kopf, Stadt, Land, wiederum private Sponsoren der „initiative pro schiffbauergasse“, allen voran Jochim Sedemund, und die chilenische Botschaft taten sich für Reparatur und Neuaufstellung zusammen. Schließlich, im Dezember 2005, brachte ein Kripobeamter in einer Plastiktüte den Kopf, den ein Bürger gefunden und bei der Wache abgeliefert hatte … Der damalige brandenburgische Bauminister Frank Szymanski ließ verlauten: „Die Skulptur ist mir lieb geworden. Sie zeigt Bewegung und ist Sinnbild für die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft“ - und unterstützte die auch städtebaulich wichtige Operation finanziell aus Lotto-Mitteln.

Nur wo, mitten im Winter? Ausgerechnet in der ehemaligen Bezirksstelle der Stasi am Pfingstberg fand sich ein Atelier, in dem die Reparatur von „Nach Vorn“ bei bitterkalten Temperaturen bis Februar 2006 erfolgen konnte. Alejandra Ruddoff, hierfür wieder nach Deutschland eingeladen, erlebte nicht nur meterhohen Schnee, sondern auch viel engagierte Unterstützung vor Ort – und nutzte die Gelegenheit für neue Kontakte und neue Arbeiten, wie sie in der Ausstellung gezeigt werden.

Am 29.4.2006 wurde das Modell von „Nach Vorn“ unter großer Anteilnahme erneut an der Humboldtbrücke aufgestellt, nun auf einem erhöhten Sockel noch besser sichtbar – zugleich als Zeichen für die Fertigstellung mehrerer Bauabschnitte des Kulturzentrums an der Schiffbauergasse. Wiederum bekräftigte Oberbürgermeister Jakobs, zusammen mit dem neuen brandenburgischen Bauminister Reinhold Dellmann, das Interesse und die Bereitschaft zu einer dauerhaften Aufstellung der Plastik an der Auffahrt der Humboldtbrücke – dauerhaft auch im Material und in ihrer Umgebung, nämlich als Metallguss auf einer „Plaza de Chile“ benannten, räumlich gestalteten Kreuzung, die endlich die städtebauliche Lücke zwischen Innenstadt und Schiffbauergasse / Berliner Vorstadt fassen könnte.

Beflügelnd für diese Idee war, als sich gleichzeitig herausstellte, dass die neu gewählte Präsidentin der Republik Chile, Michelle Bachelet, einige Jahre als Studentin im Exil in Potsdam zugebracht hatte. Und dabei häufig vom Wohngebiet „Am Stern“ mit der Straßenbahn über die nach dem in Lateinamerika bis heute verehrten Naturforscher Alexander (und seinem Bruder Wilhelm) von Humboldt benannte Brücke gefahren war, woran sie sich im Gespräch mit Alejandra Ruddoff noch sehr gut erinnerte.

Für einen Abguss wird eine perfekte Form benötigt – und das war und ist die wegen erneuter Bauarbeiten an der Humboldtbrücke auf die Seite der Behlertstraße versetzte Fassung von „Nach Vorn“ aufgrund ihres Materials und vieler Überarbeitungen nicht. Perfekte Formen werden an der Schiffbauergasse im Volkswagen Design Center hergestellt – wobei Autodesigner von Künstlern den Umgang mit der freien Form, Künstler von Autodesignern aber deren perfekte technische Realisierung lernen können.

Das war das Motiv des Volkswagen Design Centers, Alejandra Ruddoff dort im Herbst 2006 ein temporäres Atelier einzurichten – und in einer Art Workshop, mit personeller und technischer Assistenz die Herstellung einer neuen „Master“-Form für „Nach Vorn“ zu ermöglichen, die nicht nur als physische Gussvorlage (im Maßstab 1:3) hergestellt, sondern auch mit speziellen, nur in der Industrie verwendeten Hightech-Lasern gescannt und damit als exakter räumlicher, skalierbarer und reproduzierbarer Datensatz gespeichert wurde. Wozu die Verbindung von Kultur und Wirtschaft befähigt, mag eine Modellversion von „Nach Vorn“ zeigen, die auf diesem Weg entstand: Als dreidimensionaler Ausdruck.

All dieses Engagement führte schließlich im April 2008 zu einem Beschluss (Nr. 07/SVV/1119) der Stadtverordnetenversammlung Potsdam:

„Im Zuge der Bauarbeiten an der Humboldtbrücke schafft die Stadtverwaltung einen dauerhaften Standort für das Kunstwerk „Nach Vorn“ der chilenischen Künstlerin Alejandra Ruddoff. (…) Ende 2008 soll über den Stand des Projekts im Kulturausschuss berichtet werden“. Zugleich wurde der Oberbürgermeister beauftragt, private Initiativen bzw. Sponsoren aus der Wirtschaft für die Realisierung einzubinden, um die Stadt selbst mit keinen Kosten zu belasten.

Gespräche in der Bauverwaltung der Landeshauptstadt Potsdam, mit dem Ministerium für Infrastruktur und Raumordnung des Landes Brandenburg und der chilenischen Botschaft ergaben den Konsens, in einer Rahmenplanung die künftige urbane Ausgestaltung des Kreuzungsbereiches Humboldtbrücke / Berliner Straße als “Plaza de Chile“ vorzusehen. Als besonders interessante Idee wurde verfolgt, z.B. in einem Workshop deutsche und chilenische Studierende aus den Fachrichtungen Architektur/Städtebau/Garten- und Landschaftsarchitektur zu beteiligen. Die chilenische Botschaft sagte ihre Unterstützung zu; und stellte in Aussicht, zur Bepflanzung des Areals Baumarten aus Chile zu beschaffen – eingedenk der Namensgeber v. Humboldt und der Potsdamer Tradition, öffentliche Straßen, Plätze und Gärten mit „Exoten“ zu bestücken.

Es erinnert an die von Oberbürgermeister Jakobs schon 2002 bemerkte, der „automobilen“ Thematik von „Nach Vorn“ innewohnende Hybris, welche die weitere Verfolgung dieses Vorhabens bisher schwierig gemacht hat: Die Kosten für die Sanierung der Humboldtbrücke und der Kreuzung Berliner Straße explodierten. Damit rächte sich, wie und in welcher Eile man in den 1970er Jahren diese Schneise über die Havel und in die Stadt zu deren „autogerechter“ Erschließung per Schnellstraße geschlagen hatte: Oberbürgermeister Jann Jakobs und Bauminister Reinhold Dellmann gerieten über die Finanzierung der Mehrkosten (Gesamtkosten von nun 55 Millionen € !) der Baumaßnahmen in Streit; der neue städtische Baubeigeordnete Matthias Klipp drohte gar mit einem Baustopp und damit jahrelangem Dauerstau für alle Autofahrer.

Den Beteiligten sei geraten, sich ‚Nach Vorn‘, eben wie Sisyphos zu verhalten: Die Aufgaben der Baupolitik sind zwar unendlich, aber nur Bewegung kann die Spannungen lösen. Vielleicht auch die, dass in einem „Kulturstaat Deutschland“ die öffentliche Hand bei einem Bauvorhaben dieser Größe (wieder) Verantwortung für eine lebenswerte Gestaltung der Stadt und damit Kunst im öffentlichen Raum tragen und voran gehen sollte – dies lässt sich nicht einfach nur auf Privatleute und Sponsoren aus der Wirtschaft delegieren. Es ist nicht vermessen, zu hoffen, dass damit auch die Skulptur von Alejandra Ruddoff die gebührende Unterstützung für die dauerhafte Realisierung als Guss und damit endlich ihren Platz findet – auf der Humboldtbrücke, an der Berliner Straße, vor der „Schiffbauergasse“, mitten im Verkehrsgewühl, im urban und weltoffen gestalteten Raum.

Als jedenfalls ein Schritt auf diesem Weg versteht sich die im „Alten Rathaus“ der Landeshauptstadt Potsdam gezeigte Ausstellung zum Oeuvre von Alejandra Ruddoff.

Martin Schmidt-Roßleben war Leiter des Kulturamtes der Stadt Potsdam und entwickelte Vision und Realisierung der “Schiffbauergasse” von einer verfallenen Stadtbrache zu einem integrierten Kultur- und Gewerbestandort an den arkadischen Ufern der Havel, mit dem Neubau des Stadttheaters, Gebäuden für verschiedenste Kultureinrichtungen und zeitgemäße gewerbliche Nutzungen wie „ORACLE“ und das Volkswagen Design Center.

Auf dem Weg zu einer Ontologie de Form

Der Mann in der Mitte der Skulptur „Nach Vorn“ der bekannten chilenischen Bildhauerin Alejandra Ruddoff bleibt rätselhaft. Er ist wie ein wiederkehrendes Wesen, das in der Zeit gefangen ist. Er treibt und ist angetrieben durch die Kräfte, die ihn umgeben und deren Teil er ist. Diese Kräfte beinhalten eine bestimmte, spezifische Räumlichkeit. Und Raum ist beides, eine physische und metaphysische Qualität – ein äußeres und ein inneres Phänomen.

Dieser Mann ist auch von seinem eigenen Gewissen (an)getrieben, wenn es denn eine solche Abstraktion je gab – jedenfalls einer spezifischen Fähigkeit, sein Ziel sowie die Bewegung in Ruddoff's Skulptur zu verändern.

DUnd diese Bewegung provoziert Gefühle und Emotionen, da das Physische eine Rolle in der Metaphysik der Zeit und des Raums spielt, in dem wir alle existieren.

Wir sind uns dieses Rätsels des Bewusstseins und der Ontologie des Lebens selten im Alltag bewusst. Aber wir spüren es, in den extremen Erfahrungen des Lebens; Geburt und Tod.

Es ist eine parabolische Kurve, als würden unsere Leben sich bewegen und bewegt werden von Kräften, die gleichzeitig universell und größer als irgendeiner von uns sind, kollektiv oder individuell: Aber Kräfte, die so intim und unendlich wie mikrokosmisch sind.

Die Formen, die den Mann, das Subjekt in Ruddoff's „Nach Vorn“, umgeben, aber dennoch nicht überwältigen, repräsentieren in den Worten der Künstlerin eine Identität, in der wir uns selbst in der Mitte der Zeit wiedererkennen.

Auch bestätigt Ruddoff das Gefühl, dass unser physisches körperliches Selbst im Verhältnis zu einer Physik des Raums steht. Fast vor-natürlich, wenn sie dem Autor bestätigt, „in meinen Formen (…) erkennt man verschiedenste geologische Beziehungen, so auch das Land oder die Impressionen, die Steine auf Land hinterlassen mögen.“ Diese Strukturen könnten das Produkt pneumatischer Abdrücke sein, ergeben sich aber natürlich.

Es gibt eine natürliche Kontinuität zwischen Rudoff’s großem öffentlichen Kunstwerk „Hommage an den Wind“ (2000) in der chilenischen Pampa Magellanica, und dem gegenwärtigen Werk „Nach Vorn“ in seiner so urbanen und historischen Szenerie. Beide Skulpturen halten einen offenen Dialog mit unserer Beziehung zu Zeit und Raum, in einem universellen und dynamischen Sinne. Der soziale Dialog ist einer, der unseren Platz in der natürlichen Welt umfasst, und beide Skulpturen reflektieren ein Bewusstsein unseres physischen und metaphysischen Wesens. Die Synchronizität zwischen Form und Ort ist so synthetisch wie organisch. Sie involviert Schnelligkeit, die Physik und die Dynamik des Lebens selbst. Mehr noch, „Nach Vorn“ konfrontiert uns mit einem Leitmotiv: Dem Ineinandergreifen menschlicher Innovation, also unserer Kapazität zu erfinden, anzupassen und neues zu schaffen, mit dem zentralen Verständnis der Ökonomie der Dinge.

Die Schichten oder geomorphen Formen, die wir in „Nach Vorn“ erkennen, suggerieren eine Integration der Menschlichkeit in das Ökosystem, und als wirkliche Designarbeit mit und an der Natur etablieren alle Skulpturen, ob synthetisch oder organisch, ihre Sprache auf der Basis einer Ökologie der Materialien. Wie Constantin Brancusi’s “Endloser Pfeiler” (1938) in Târgu Jiu, Rumänien. Ruddoff’s Skulptur teilt etwas mit der primitiven Liebe simpler Formen. Brancusi verwies auf eine Material-Kultur, verwurzelt in geo-spezifischer Identität. Alejandra Ruddoff’s Skulptur existiert in einem anderen historischen Stadium, wo jetzt der Tod der industriellen Kultur und ein neues nachhaltiges Modell für Kultur und Ökonomie aufscheinen. Ruddoff’s bildhauerische Formen spielen auf die Natur an, aber auch auf die Mechanik, und eine im Industriellen wurzelnde Ästhetik. Nur dass wir hier die industrielle Ästhetik unter Schichten der historischen Progression ausgedrückt sehen durch geologische Formen.

Alejandra Ruddoff hat schon 1995 eine kleine Serie von Arbeiten in Aluminium produziert, welche die formelle Simplizität und organische Logik der gegenwärtigen und größeren Arbeit „Nach Vorn“ teilen. Es sind Anspielungen an die Physik, an die abstrakte Natur der Gedanken, und vor allem handelt es sich um Skulpturen, die eine dialogische Beziehung zwischen dem Mechanischen und dem Organischen visualisieren. Beide Elemente ko-existieren wie die Menschheit in einer gemeinschaftlichen Beziehung zu der natürlichen Umwelt, welche sie umgestaltet, von der sie ausgeht und mit der sie eng verflochten ist.

Einige dieser kleineren Objekte der gegenwärtigen Einzelausstellung von Alejandra Ruddoff's Skulpturen sind in ihrer Quintessenz menschlich, ein paradigmatisches Emblem der Geschichte des Wandels und allem, was dieser impliziert. Der Wandel ist dem Mann in der Skulptur einverleibt, und wir sehen ihn als Teil einer sich endlos wiederholenden Ontologie; die der Formen vor und hinter ihm. Diese greifbaren, geomorphen Schichten sind bildhauerische Metaphern des Zyklus des Wandels, in dem wir Menschen uns befinden.

Alejandra Ruddoff's Skulpturen spielen auf eine größere, öffentlichere Bildhauerei an, selbst wenn es sich um Studien, Modelle, Zeichnungen oder Lithographien handelt. Ihre Skulpturen sind aus und innerhalb einer zusammengesetzten Vision der Natur geboren.

Mit einer ungewöhnlichen Ambiguität und Kontinuität der sich wiederholenden Formen sind sie Gestalten in Entwicklung. Wir erkennen dies in „Obelisk“ und „Diacronía“.

„Diacronía“ ist eine Skulptur, die von Ruddoff für einen öffentlichen Auftrag geschaffen wurde, den Metropolitan Park neben der Brücke am Mapocho-Fluss im Zentrum von Santiago, in Chile vor einigen Jahren.

Diese Form lässt uns nicht kalt, genau wie die Zeichnungen und Drucke in der Ausstellung, da die Themen als Re-Konfigurationen der Metaphysik von Physik, Ort und Zeit wiederkehrend sind. Wie Ruddoff ihre Inspiration aus direkter Beobachtung und induktiven Gedanken nimmt, verursacht, dass diese Werke uns erstaunen lassen - entgegen der bildbasierten Kopie von Symbolen und Karikaturen und dem Ausschneiden und Kopieren unserer Zeit. Diese Skulpturen haben einen designerischen Imperativ und ein Interesse an Struktur, nicht als Bilder, sondern als Metaphern für das Leben selbst; und selbst wenn die Landschaft und urbanen Umgebungen intervenieren, scheinen sie doch diese expansiven skulpturalen Werke zu unterstützen. In jeder von Alejandra Ruddoff's Skulpturen erkennen wir, dass die Formen sich in einem Zustand des dynamischen Wandels befinden. Die Formen unterscheiden sich; trotzdem aber spiegeln sie sich und sind auch das Echo voneinander. Als dynamische Formen entsprechen sie einem breiter gefassten Verständnis der Zeit, und genauso suggerieren sie Schichten innerhalb der Zeit. Alejandra Ruddoff's Skulpturen sind kurze Blicke in unseren Raum innerhalb der Schichten der Zeit. Die formalen Variationen sind subtil, es ist unmöglich, sie in ihrer Ganzheit zu begreifen, da sie physische Fragmente sind, niemals verschlossen oder abgeschottet - oder auch als zusammenfassendes Alles zu verstehen.

So führt Alejandra Rudoff einen offenen bildhauerischen Dialog mit der (natürlichen) Geschichte. Ruddoff's Skulptur geht über die modernistische Sprache David Smith's ausgeschnittener Stahlcollagen oder auch die ländlich-majestätische Skulptur Henry Moore's hinaus und fügt sich ein in die Riege der Wissenschaft und der Physik, aber immer mit einer Befragung der Humanität. Wer sind wir? Was ist diese Reise des Lebens, in die wir als Zivilisation involviert sind? Wir finden hier keine Antworten auf diese Fragen... nur skulptierte Metaphern, die sich in einer Balance zwischen Bewusstsein und Intuition anordnen lassen. Auch hier gibt es eine natürliche Erosion, und wir spüren, dass die Zeit sich auf diese skulptierten Formen auswirkt. Als ob sie in der Natur existierten - nebst diesem symbolischen Mann. Und es besteht eine flexible, elastische Dynamik zu der Skulptur in ihrer Ganzheit. Diese Metapher des Wandels bezieht sich auf das humanistische Experiment all unserer Innovationen und historischen Fortschritte, nun in einem Stadium des Wandels. Diese Mechanismen, als Strukturen in Ruddoff's Skulptur, erscheinen natürlich und referieren zugleich die Mechanismen, die Menschen dazu inspirieren, Innovationen zu schaffen. Dies ist eine fortschreitende und progressive Evolution. Technologie mag ein Antrieb der Geschichte sein, genauso wie die Natur unumgänglich die Menschheit treibt - und wir sowohl Instinkt als auch Bewusstsein haben, ersteres sich aus unserer inhärenten Sensibilität ableitend.

Diese Mechanismen sind pur mutmaßlich und projizieren in den Raum, definieren aber nicht diesen imaginativen Raum der Erfindung. Die Freiheit existiert in der gegenseitigen diachronischen Art, in der Ruddoff mit organischen Formen spielt. Sie variiert diese Formen als eine Serie sich wiederholender Variationen, um dann andere, mehr literarische und graphische Mechanismen von Bedeutung einzuführen. Mit diesen Skulpturen können wir eine Erinnerung visualisieren, inhärent dem Zweck selbst, der Teil des Prozesses der natürlichen Zeugung der Natur ist, genau wie wir die bewusste Intervention der menschlichen Gestaltung verspüren. Gestaltung existiert innerhalb der Ontologie sich immer verändernder Form(en), in einem hypothetischen Raum des „Leben-lassens“. Dieser Aspekt der Erinnerung, an den Ruddoff anspielt, ist nicht nur räumlich oder skulptiert, sondern eine Erinnerung, die jeglichem Zweck innewohnt. Und so kollaborieren in Alejandra Ruddoff's Skulpturen die Physik und die Intuition, so ist Erinnerung Bestandteil des Zwecks und der Weise, in der Formen in einer Kontinuität der Erfahrung geschaffen werden – Zeit modelliert Form. Der Mann in „Nach Vorn“ existiert in einer endlos scheinenden Folge von Schichten, oder Fragmenten von Schichten, und in alldem sieht er und spürt seinen Platz, dirigiert in einem gewissen Grad oder versucht, Einfluss auf alles zu haben. Weder Opfer noch Kontrolleur, aber ein Designer inmitten eines größeren Designs, sieht er von Ruddoff erfunden so physisch aus, als wäre er in ein metaphysisches Stadium gebracht worden, als Anspielung auf die Zeit. Dies ist eine Skulptur über die Ontologie der Form, eines suggestiven Platzes, wo Zwecke durch eigene Sequenzen ablaufen, eine Sequenz, die kein Ende findet und ein Kontinuum der Form suggeriert. Aber die Form wird hier nicht als Form gehalten: Stattdessen sind es aneinander angrenzende Formen, die von der Zeit durchwandert werden. Hyperbolische Gesten im Raum werden konkretisiert, als wäre dies die Anspielung an die Anfänge der Welt in der Natur.

Hier findet sich Nostalgie für die mechanische Ära in einer post-industriellen Ära, oder noch ironischer, einer industriellen Ära, die aus einer Kultur stammt, -Chile-, wo die Natur stets eine potente Quelle bleibt.

In Chile ist die historische Distanz zum Industrialismus zweifach entschwunden. Dies produziert eine doppelte Perspektive auf die Geschichte, man verspürt eine Ellipse der Bedeutung. Produktion als Metapher ist weniger befangen und hat selbst einen elastischen und flexiblen Einfluss auf die Transformation des Raums durch eine überwältigende Kraft der Natur. Aber die Energie, die durch diese wunderschönen, sich wiederholenden Formen suggeriert wird, schmiedet nichtsdestotrotz einen Gegenpol. Es besteht eine Ambiguität in dem synthetischen/natürlichen Dualismus, der Alejandra Ruddoff's Skulpturen innewohnt.

Der Bildhauer, der im 21 Jahrhundert mit physischem Raum arbeitet, ist fast eine Anomalie, und trotzdem verbleibt die physische Welt so wichtig für unsere Zukunft, wie sie es jemals war. Während digitale Bilder und neue Technologien zum Dogma der Arten werden und eine Welt voll potentieller Freiheit anbieten, verbleiben sie weniger komplex als die echte Welt, und das menschliche Auge bleibt komplexer und begabter, Erfahrungen zu speichern, wie sie sind, als eine digitale Erinnerung oder Bildschirmtechnologie.

Die Wurzeln irgendeiner Form spiegeln sich in den Materialien wieder, mit denen jemand arbeitet. Aus dem nächsten Umfeld entnommen, bekommen Alejandra Ruddoff's Skulpturen eine Stimme der materiellen Metapher. Ihre Formen existieren als Fragmente einer größeren intuitiven Form. Sie suggerieren eine Kontinuität der Form im Raum, aber in Formen, die objektiviert sind. Die Bewegung entsteht durch die Form, nicht um sie herum, wie bei den einzigartigen Formen der „Kontinuität im Raum“ (1913) des italienischen Bildhauers Umberto Boccioni.

Alejandra Ruddoff's öffentliche Skulptur “Nach Vorn” handelt von der physischen Welt, und wahrhaftig über die Physik des Lebens, deren Teil wir alle sind. Die implizite Bewegung wird eine Paraphrase unserer emotionalen Lage in einer Zeit des technologischen, natürlichen und historischen Wandels. Aufeinander folgende Formen oder Variationen, mit einer nahen musischen Varianz, jedoch immer an die zentrale Achse oder das Rückgrat der Skulptur gekoppelt, zeichnen Parallelen zwischen dem menschlichen Körper und der Landschaft, da der Körper innerhalb eines Stils der Zeit, des Orts und des Raums existiert. Auf Schnelligkeit wird mit dieser Skulptur angespielt, nicht Gedanken dargestellt: Die Formen sind zugleich auch theatralisch und demonstrieren den Platz der Skulptur innerhalb der viel versprechenden und majestätischen Architektur Potsdams.

Die universelle Stimme greift gen Himmel und ist wieder geboren. Es gibt potentielle Expansion wie Kontraktion innerhalb dieser mechanisch-organischen Formen. Sie könnten potentiell explodieren oder kollabieren. Die synthetische und organische Referenz des menschlichen Zustands präsentiert uns aber eine elastische Mimesis, die in ihrer Quintessenz bildhauerisch - und so archaisch ist wie unsere Ära selbst. Alejandra Ruddoff's Skulptur sucht nach einer Ontologie der Form.

John K. Grande

Kunstkritiker und Schriftsteller. Kurator Emeritus des Earth Art der Royal Botanical Gardens in Kanada.

Das Nationale Museum der Schönen Künste präsentiert die Skulpturenausstellung der Künstlerin

ALEJANDRA RUDDOFF mit dem Titel Routen in Bewegung

Das Werk, das Alejandra Ruddoff in unserem Museum ausstellt, repräsentiert ihre neuesten Arbeiten und stellt meiner Ansicht nach die Krönung einer ästhetischen Orientierung der Entmaterialisierung des Volumens dar, deren Beginn 1988 zu setzen ist; damals begann sie eine Entdeckungsreise auf der Suche nach der Befreiung der Skulptur von Masse und Gewicht mit dem Ziel, sie in den Raum auszudehnen. Beispiel hierfür sind ihre Forschungsarbeiten in München in jenem Jahr mit virtuell von der Schwerkraftbremse befreiten räumlichen Strukturen, bei denen sie auf füllige Skulpturen bildende umgebende Massen verzichtete, um so die Eroberung des Raums zu beginnen, bei der der Raum selbst protagonistischen Charakter bekommt. Diese Erfahrung wiederholte Alejandra Ruddoff bei ihrem zweiten München-Aufenthalt im Jahr 1992, dieses Mal akzentuiert durch die direkte Beobachtung der bedeutenden Faktoren Energie, Bewegung und Geschwindigkeit in der Automobilfabrik BMW.

Indem sie die Volumen von Masse und Gewicht befreit, erscheinen sie als Kraftlinien, die sich auf einer Art Route ohne Anfang und Ende in verschiedene Richtungen entfalten, wobei die mechanizistische Zeitlichkeit des Beginns und des Endes annulliert wird. Es ist kein Zufall, dass die Arbeiten sich auf Transit, Zirkulation, Strecke, Sternwind oder Konstellationen beziehen.

Oben habe ich angesprochen, dass die im Museum ausgestellten Werke das Ergebnis der Bearbeitung einer Strömung der bildhauerischen Arbeit sind: die der Entmaterialisierung. Doch in ihrem skulpturellen Korpus schwingen andere Optionen mit, wie zum Beispiel die Wiederherstellung von Masse und Gewicht. Wenn dieser Aspekt in der Ausstellung nicht repräsentiert ist, dann nicht, weil Alejandra Ruddoff diesen Weg aufgegeben hat, sondern weil sie zu dieser Gelegenheit der räumlichen Entdeckungsreise den Vorzug gegeben hat.

Die Publikationen haben die Form vom poetischem Essay, Artikel in akademische Zeitschriften und ausgewählte Editionen für Kunst und Literatur, Übersetzungen, sowie Kompilationen und thematische Ausstellungen.

Milan Ivelic

Direktor Nationales Museum der Schönen Künste (1993 - 2011)

Hommage an den Wind von

“Hommage an den Wind” von Alejandra Ruddoff ist vielleicht das einzige in Chile geschaffene Kunstwerk, das gleichzeitig als Poetik gelten kann. Die in der südlichsten Region der Welt installierte Skulptur besitzt die keimende Leichtigkeit eines Gedichts (oder eines Distelsamens, wie die Künstlerin es in einem Text definiert) und ebenso die Reinheit der ältesten Denkmäler. Hier wird den Winden, der Landschaft und ihrem Delirium eine Form gegeben, sie werden sichtbar gemacht, und ihre Kraft, ihre Kontraste, ihre Richtungswechsel bekommen durch dieses Werk eine Körperlichkeit, die uns auf paradoxe Weise das Menschliche erfahren lässt.

Das Werk vemenschlicht die Winde und mit ihnen die Unendlichkeit des Universums, indem es Analogien zu den Leidenschaften, den Wirbelstürmen oder den leichten Brisen konstruiert, die wir in uns tragen (nicht umsonst hat die Poesie immer die Leidenschaften mit dem Wind verbunden), und die gleichzeitig Bestandteil der Natur, der Atmosphäre, der Erde sind. Alejandra Ruddoff bringt uns die Einsamkeit der unfaßbaren südlichen Einöde nah. Der gerade Schnitt einer Strasse und die sie diagonal kreuzenden vier Stiele aus rostfreiem Stahl, ihre sich drehenden Blüten, die Spiralen, die vibrieren wie alle Stacheln und Blumen der Welt, die Gräser, die Blütenblätter, rezitieren ein stummes Gebet für die Einheit alles Existierenden.

Die Skulptur zeigt uns eine intime Dimension der Natur, in Analogie zu den subtilsten Gefühlen oder den wildesten Auswüchsen des Verrückten, des Fieberwahns oder der Leidenschaft. In diesem Kunstwerk steckt etwas Wahnsinniges, als wolle es die menschlichen Möglichkeiten transzendieren. Wie Blitzableiter ziehen die vier Säulen aus rostfreiem Stahl und ihre sich drehenden Spiralen die Gewalten der Natur und der Geografie an, die sich in der Ferne verliert; und doch erkennen wir gleichzeitig diese Landschaft als Zentrum all dessen, was in Worten als Herz, Seele und Sinnestäuschung definiert ist.

Wie in einem Traum bewohnen wir diese Landstriche aus der Ferne, bauen Straßen, und plötzlich erkennen wir, daß wir das nur getan haben, damit eine der heute bedeutendsten Künstlerinnen uns die Kehrseite unserer eigenen Leidenschaften, unserer Einsamkeit, Blößen und Nostalgie vor Augen hält. Alejandra Ruddoff hat diese Landschaften mit ihrem Werk signiert, die Pampa Südamerikas ist nach dieser Einschrift noch immer dieselbe und doch im selben Moment eine andere. Ich stelle mir ein Auto vor, daß sich durch die Strasse schneidet, und ich sehe die diagonal kreuzende Installation wie einen Traum, der uns alle aufnimmt, in dem wir alle ein Bild von Himmel und Wind, der großen Grasflächen, der öden und eisigen Weiten, der Wolken und des Frostes sind.

Dieses Kunstwerk ist eine der schönsten Skulpturen, und indem sie gleichzeitig alle Grenzen zwischen Bild und Wort, Fleisch und Geist, Natur und Seele eliminiert, wird sie zu einer der großen chilenischen Poesien. Die Autorin hat es “Hommage an den Wind” genannt, doch darüber legen sich die vier Spitzen des Kreuzes des Südens, und somit ist es auch eine Hommage an den Süden der Welt und seine Sterne, die kosmischen Nebel und seine Galaxien. Etwas wie unser nicht klar definierter, distanzierter Blick fällt auf die vier Stahlstachel, auf die vier leichten und bewundernswerten Blüten, und alles, was wir menschlich nennen wird intensiver und stärker, stiller und entfernter.

So verschmilzt Alejandra Ruddoffs Skulptur zu einem weiteren Detail der Natur, und mit Hilfe der Installation zeigt uns ebendiese Natur, daß auch sie eine Seele, ihre eigenen Gesänge und Gedichte, ihre eigenen Worte besitzt.

Raúl Zurita

Chilenischer Nationalpreis für Literatur.

Und die Polaritäten der Skulptur in dieser Landschaft

Die Gegenüberstellung von Widersprüchen als Charakteristik des kritischen Raums, den die Moderne eröffnet, gehört zu den fundamentalen Elementen für das Verständnis der zeitgenössischen Kunst. In Chile Kunst zu produzieren heißt, sich der Schwierigkeit der Situation zu stellen, zu der sich des weiteren der – vor allem hinsichtlich der Zeitlichkeit - prekäre Charakter unserer Geschichte gesellt. Definiert wird diese Geschichte durch die Produktion an Bedeutungsmehrwert, denen die internationalen Tendenzen ausgesetzt sind.

Innerhalb des Diskurses der widersprüchlichen Gegensätze steht das Polaritätskonzept. Es rettet das nicht zu rettende, indem es den Widerspruch innerhalb einer künstlerischen Situation der Systematisierung unterzieht. Auf diese Weise entsteht das Konzept der “Autonomie” der Kunst, das von dem Moment an für die präzise kritische Würdigung der spezifischen Produktionsmodalitäten und der Bedeutungsstrukturen der Werke zum notwendigen Ausgangspunkt wird.

Der Ursprung der zeitgenössischen Bildhauerei zeigt sich im Gegensatz zwischen den Diskursen von Rodin und Hildebrandt; Gegensätze nicht zu vereinbarender Konzepte in der Erscheinung der Form. Der “explodierende Würfel” Rodins löst sich radikal von der Auffassung der einheitlichen Totalität seines Widersachers, für den die Magie der absoluten Formen des XV. Jahrhunderts noch fortlebt. Das verweist uns auch auf den ersten Widerspruch zu dieser kristallklaren Idee: als nämlich im XVI. Jahrhundert der Sinn der Welt verloren geht, und die Unsicherheit die Raum- und Zeitkonzepte unterwandert. Damit wurde auch die Einheit und Klarheit der Form in Frage gestellt, und die Kunst öffnete sich hin zu einer in ihrer Fragmentierung und Hermetik konfusen Welt. Diesen tiefgreifenden Verlust des Zentrums tragen wir mit uns in einem permanenten Entwurzelungsprozeß.

Wir können diese Gegensätze als grundlegend ansehen, da sie die funktionalen Basiskonzepte für die Kunstkritik schaffen, und auch weil sie den Beginn der auf Widersprüchen beruhenden Operationen markieren.

Diese Gegensätze, die größtenteils noch die europäische Bildhauerei bis zum XIX. Jahrhundert bestimmen, stellen sich in unserer lokalen Bildhauerei auf eigene Weise dar. Dabei überrascht die Beharrlichkeit auf Herkömmlichen, trotz der späteren und bedeutenden Einflüsse von außen. Was wirklich erstaunt, ist dass auf dem Kontinent der Modernität das Streben nach Kontinuität so ausgeprägt ist.

Die zeitgenössische Geschichte der chilenischen Bildhauerei findet ihre Wurzeln in drei gegensätzlichen Künstlern: Lorenzo Domínguez, Marta Colvin und Lily Garafulic, die sich zwischen 1930 und 1960 im nationalen Bewußtsein verankern.

Ihm selbst zum Trotz hinterläßt Lorenzo Domínguez durch seine bedeutenden Beiträge einen Diskurs, der selbst für seine Gegner zur Orthodoxie wird und die Fakultät der bildenden Kunst der Universidad de Chile deutlich prägt. Laut Domínguez trägt das Material das fundamentale Konzept des Werkes in sich; grundlegend ist dabei das Verhältnis Masse-Gewicht in der Form des Blocks. Dazu kommt der mythische Wert des Steins, Verwahrer par excellence des amerikanischen Geists.

Semper beschrieb im XIX. Jahrhundert die – auch für die Bildhauerei nützlichen - formalen Grundlagen für die Architektur: nämlich den Gegensatz zwischen Stereotomie und Tektonik. Das erste Konzept bezieht sich auf die Substraktion oder die Aushöhlung eines Grundblocks, und das andere auf die formale Entwicklung durch Addition oder Zusammenfügen von Teilen. Domínguez steht für die erste Polarität und Marta Colvin, Jahre später, für die zweite. Sie leitet ihre Arbeit aus den Erfahrungen mit Laurens und Zadkine ab und bietet uns ein Werk, das vom Konzept der Konstruktion und somit auch der des Zusammenfügens bestimmt wird. Noch später (1962) bringt Lily Garafulic diese Bipolarität in Unordnung, indem sie mit Oberflächenbehandlungen, mit einer piktorischen Annäherung experimentiert, die wie Schminke die ursprüngliche “Noblesse” des Materials verändert und seine Schwere zerstört. In späteren Werken sucht sie sogar die Beziehung zur Graphik und zerrüttet damit einen lokal rekurrenten Transzendentalismus.

Alejandra Ruddoff sieht sich als Schülerin zweier Meister, bei denen in gewisser Weise die angeführten Spannungen mit den gleichen ihr Werk ausmachenden Gegensätzen auftreten: es sind Juan Egenau und Luis Mandiola. Im ersten erkennen wir trotz seiner Nähe zum Surrealismus viel vom grundlegenden Domínguez-Diskurs. Diesen nutzt er vor allem für Oberflächenbehandlungen mit graphischen Annäherungen, sowohl in der Behandlung der Texturen, wie auch in der figurativen Assoziation. Mandiola zeigt in seinem Werk eine Annäherung an die Neo-Figurative, aber vor allem ausgehend von einer Objektmanipulation tektonischen Charakters. Somit stehen Alejandra Ruddoffs Vorbilder für die schon dargelegten Optionen. Hinzufügen wäre, dass in Mandiolas Werk, ausgehend von seiner Eigenschaft als Maler und Keramiker, auch piktorische Verfahren zum Einsatz kommen.

Unumgänglich ist der Hinweis auf ihre Studien in der Kunstfakultät der Universidad de Chile. Sie nahm ihr Studium 1979 auf, dem letzten Jahr der Verschärfungen der vom Militärregime aufokktruierten kulturellen Transformationen, zu denen die Intervention und Auflösung der ehemaligen Escuela de Bellas Artes zählt. In diesem Kontext gehören die Optionen Egenau und Mandiola zu den innovativsten innerhalb einer Institution, die ab 1973 radikal gegen jegliche experimentelle Erfahrungen und vor allem gegen alle kritisch-reflexiven Prozesse vorgeht. Somit haben alle angeführten Sachverhalte durch ihre Präsenz oder ihre Abwesenheit ein bedeutendes Gewicht in einer Ausbildung, in der die Konzepte von Ausschluß und Zensur offen auf der Hand liegen. In dieser Landschaft besteht die größte Verantwortung des Studenten im “Überleben” – und nur wenigen gelingt es.

Auslandsreisen werden in diesem Streben zum notwendigen Ziel. Alejandra Ruddoff erlebt diese Erfahrung in München, wo sie in Hans Ladner die Person findet, mit deren Hilfe sie sich mit den natürlichen Schwierigkeiten ihrer Arbeit vertrauter machen kann. Dieser Kontakt erscheint mir interessant, da das Werk dieses Künstlers der “Neuen Objektivität” mit Namen wie Barlach und Lehmbrück Tribut zu zollen scheint. Hierin finden sich auch die Vorläufer für einen unglücklicherweise im Vergessen versunkenen Künstler unserer Szene: Totila Albert. Durch Ruddoffs Zitate tritt seine Abwesenheit offen zu Tage. Letztlich könnte man sagen, daß sie gegen diese referentielle Leere in unserer Geschichte protestiert.

Doch die deutsche Szene erbt von ihrer brillanten Periode zwischen den Weltkriegen auch die Spannung zwischen der “Neuen Objektivität” und dem Bauhaus. In der ersten Arbeit von Barlach drückt sie sich in volumetrischen Behandlungen aus, die nach der ursprünglichen formalen Vereinfachung suchen; Lehmbrück dagegen projiziert seine Sensibilität in die materielle Plastizität und die Tastbarkeit der Oberfläche. Im Bauhaus sticht die beunruhigende, paradoxe Figur Schlemmers hervor: er schafft sein bildhauerisches, oder besser gesagt räumliches Werk “wie ein Bildhauer”, wenn man an die volumetrische Durchführbarkeit, sein malerisches Werk und die Kostüme seiner Choreographien denkt, und simultan dazu “wie ein Graphiker”, wenn man die Exklusivität der reflektierenden, linearen und planen Elemente betrachtet. Auf diese Weise nimmt er seiner Arbeit jegliche Materialschwere. Alejandra Ruddoffs Zeit in München ist jedoch auch durch andere komplexe Beziehungen geprägt: Ladner teilt seine Präsenz mit Paolozzi, das heißt, der Erbe der Neuen Objektivität trifft auf den Botschafter des englischen Pop. Noch stärker wirkt in Deutschland die vor allem dank Beuys erlangte große Bedeutung Düsseldorfs. Der Widerspruch zu Beuys Einfluss findet sich kurz darauf im Auftreten Martin Lüpertz. Somit komplizieren sich die Polaritäten hin zu unvermuteten Optionen, die sich ihrerseits zu konstanten Alternativen verzweigen.

Das entspricht auch einer internationalen Szene, die sich mit den allgemeinen Kunsttendenzen wie dem Minimalismus oder der Land-Art kreuzt, welche die Unzulänglichkeit der kritisch-theoretischen Fundamente offenlegen. In diesem Sinne sehen wir mit Interesse den Ansatz von Rossalind Krauss, der auf Greimas´ Diagramm der Gegensätze beruht. Dort wird die grundsätzliche Spannung zwischen Skulptur – nicht-Skulptur als analytischer Ausgangspunkt für die zeitgenössische Bildhauerei vorgestellt.

Die Bildhauerei als von ihrer Geschichte bestimmte Disziplin schafft sich das Konzept des künstlerischen Feldes, wobei die Grenzüberschreitungen Raum für Experimente oder für die Ausweitung des Feldes bieten. Damit wird notwendig die Untersuchung des Feldinneren erzwungen, insbesondere des Autonomie-Begriffs. Nicht-Skulptur heißt zuallererst, sich mit der Skulptur zu beschäftigen. Diese Auseinandersetzung ist für das Verständnis der Randbereiche oder Grenzen der Disziplin unumgänglich. Damit schreibt sich das Experimentelle in ein negatives Feld ein, das seine Existenz aber einem positiven Raum verdankt; in diesen Raum ist wiederum das Experimentelle angesiedelt, wenn es sich im historischen Ablauf in den positiven Bereich integriert.

Es erscheint logisch, daß all dieses von uns erfordert, das Notwendige zu tun, von der Aktualität unserer Zeit und unseres Raums, die uns erneut beunruhigt, Besitz zu ergreifen; eine nicht ermüdende, rigurose Erforschung, da sich hier die Frage nach der Zugehörigkeit stellt.

Alejandra Ruddoff geht den notwendigen Weg, ist Zeugin eines entscheidenden Moments unserer Geschichte, in dem das prekäre im Prekären sich im geometrischen Ort ansiedelt. Sie entzieht sich nicht, ihre Arbeit, die sich in einem bedeutenden Gesamtwerk projiziert, spricht von ihren Wegen und den Spannungen dieser, ihrer Zeit. Männlicher Torso (1983) beschränkt sich nicht auf die Befragung des gegossenen Metalls, den verschiedenen Möglichkeiten der Plastizität und der Oberflächenbehandlung, sondern bewegt sich auch in der Spannung zwischen der eigenen Schwere der Materialität und dem Verlust dieser Schwere. Freie räumliche Struktur (1992) treibt die Spannung bis zur Infragestellung des Feldes und seiner Aufbrechung durch die nicht-konventionelle Verwendung der Fundamente. Noch weiter am Rand steht die Arbeit Laß’ eine Idee laufen, in der der einheitliche Block aufgegeben wird, das Werk selbst sich seine eigene Räumlichkeit schafft und die Bequemlichkeit des vorher und virtuell zugeteilten Raums entschwindet.

Speziell zieht mich Lebensraum I an, wo die Schwere des dargestellten Körpers, dessen Einheit infolge deutlicher Zusammenfügungen schon geschwächt ist, durch Einschnitte aufgehoben wird. Somit findet eine klare Annäherung an die Graphik statt, die sich nur in Abwesenheit des Körpers ergeben kann.

Die Studien der Schwerelosigkeit und des Verlusts der Materialität erfährt in Freie Struktur II ihren Höhepunkt. In diesem Fall gelingt das Experiment über Bambusstrukturen, die einen Körper kreieren, dessen Transparenz und Zerbrechlichkeit in produktivem Widerspruch zu einer Form stehen, die wir als Trägerin der genau entgegengesetzten Attribute definieren können. Noch stärker wird der Widerspruch in jedem einzelnen der Elemente, die die Struktur definieren sollen, es jedoch nie endgültig erreichen, da ihre Entwicklung auf der kritischen Spannung jeder einzelnen Axialität baut. Hier erzielt Alejandra Ruddoff innerhalb des Produktionsprozesses die maximale Gegenwart der Spannung positiv-negativ. Das erlaubt uns auf umgekehrtem Weg festzustellen, daß das gesamte Werk Alejandra Ruddoffs als rigurose und kritische Revision der Strukturen anzusehen ist, die der Bildhauerei eigen sind.

Die Schwierigkeit, der sich Alejandra Ruddoff mit ihrem Werk stellt, ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen der Bildhauerei inmitten unserer prekären Geschichte, und gleichzeitig mit den Fundamenten innerhalb der internationalen Tendenzen. Sie löst dieses Problem mit der Weisheit einer Person, die über ein tiefes Verständnis für das Feld der Disziplin und die beständige Disziplin zur Infragestellung dieses Feldes verfügt.

Francisco Brugnoli

Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst • MAC Santiago de Chile.